FIR: MATLAB Toolbox zur qualitativen Modellierung
und Simulation schlecht definierter Systeme unter Verwendung der Methodik des
diffusen qualitativen Schliessens (Fuzzy Inductive Reasoning)
Kurzbeschreibung
FIR (ursprünglicher Name: SAPS-II) wurde als Werkzeug zur qualitativen
Modellierung und Simulation schlecht definierter Systeme entwickelt. Die Fuzzy
Inductive Reasoning (FIR) Methodologie basiert auf den Ansätzen der allgemeinen
Systemtheorie (general system theory), wie sie von George Klir an der State
University of New York at Binghamton entwickelt worden war.
Jedes induktive Modellidentifikationsproblem läuft im Endeffekt auf eine
Optimierungsaufgabe hinaus. Da schlecht definierte Systeme als hoch nichtlinear
angenommen werden müssen, über deren interne Struktur nichts oder nur sehr wenig
bekannt ist, versagen die meisten Optimierungsverfahren, da sie in lokalen Optima
stecken bleiben. FIR bietet im Gegensatz dazu eine globale Optimierungsstrategie
an. Somit bleibt FIR nie in einem lokalen Optimum hängen.
Optimierungsalgorithmen mit globaler Konvergenz sind notorisch rechenaufwendig.
Um den Rechenaufwand in Grenzen zu halten, wird bei FIR der Suchraum diskretisiert.
Diffuse Logik (fuzzy logic) wird verwendet, um zwischen benachbarten Lösungspunkten
im diskreten Suchraum zu interpolieren. Die diffuse Logik erlaubt es, den diskreten
Suchraum weitmaschig anzusetzen.
Die meisten induktiven Modellidentifikationsverfahren gehen von einer fest vorgegebenen
(wenn auch häufig arbiträren) Struktur aus und bilden das Erfahrungswissen auf einen
Satz von Parameterwerten ab. Die Erfahrungswerte (training data) werden nur während
der Modellidentifikationsphase, d.h. der Modellierungsphase, verwendet. Wenn das
Modell erst einmal identifiziert ist, werden die Simulationsläufe unter Verwendung
der zuvor optimierten Parametersätze durchgeführt. Solche Verfahren haben den
Nachteil, dass sie normalerweise nicht erkennen, wenn die Simulationsdaten (testing
data) ausserhalb des Bereichs liegen, für welchen das Modell validiert wurde.
Im Gegensatz dazu handelt es sich bei FIR um ein nicht-parametrisches Verfahren.
Während der Modellidentifikationsphase werden die Erfahrungsdaten charakterisiert
und klassifiziert, aber nicht auf Parametersätze abgebildet. Somit greift FIR
auch während der Simulationsphase immer auf die klassifizierten Erfahrungsdaten
zurück und ist darum ausser Stande, "grosszügig" zu extrapolieren.
Voraussagen zu machen ist immer einfach. Wesentlich schwieriger jedoch ist es,
abzuschätzen, wie gut diese Voraussagen sind. Die FIR Methodologie bietet ein
inherentes Fehlerabschätzungsverfahren an. Somit werden bei FIR mit den
Vorhersagen immer gleich auch Abschätzungswerte des Vertrauens geliefert, welches
das Verfahren in seine eigenen Vorhersagen hat. Diese Eigenschaft zeichnet FIR
vor anderen nichtlinearen Modellidentifikationsverfahren, wie z.B. den neuronalen
Netzen, aus. Statistische Verfahren liefern zwar ebenfalls Vertrauensintervalle.
Diese Verfahren sind aber im Wesentlichen linearer Natur.
Historische Entwicklung
- Im Jahre 1979 entwickelte Hugo Uyttenhove eine erste Version der Software
SAPS (System Approach Problem Solver) als Teil seiner Dissertation, die
er unter George Klir an der State University of New York at Binghamton
schrieb. Bei SAPS handelte es sich um ein geschlossenes Softwaresystem,
welches Klir's Ansätze der allgemeinen Systemtheorie implementierte,
welches aber nur für einen festen Satz vorgegebener Problemstrukturen
eingesetzt werden konnte.
- Im Jahre 1986 entwickelte David Yandell in seinem Senior Project eine neue
Version dieser Software, genannt SAPS-II, welche als Bibliothek von CTRL-C,
einem Vorläufer der heute im Einsatz befindlichen MATLAB Software, entwickelt
wurde. Die SAPS Module wurden in Fortran kodiert. Yandell erkannte, dass
sich die Datenstrukturen, die in SAPS benötigt werden, elegant als Matrizen
darstellen lassen. Somit eignete sich CTRL-C sehr gut, um SAPS zu
implementieren. Im Gegensatz zur ursprünglichen Version von SAPS war
SAPS-II sehr flexibel. Die einzelnen SAPS Module wurden als Unterprogramme
(Funktionen) aufgerufen und konnten beliebig miteinander kombiniert
werden [1-3].
- Im Jahre 1988 entwickelte
Pentti Vesanterä in seiner
MS Thesis eine erste praktische Anwendung dieser neuen Technologie.
Er entwickelte dazu ein qualitatives Modell einer Boeing 707 im
Horizontalflug [4]. Allerdings handelte es sich bei SAPS bis zu diesem
Zeitpunkt um ein rein diskretes Modellierungsverfahren.
- Im Jahre 1990 nahm Donghui Li eine
diffuse (fuzzy) Erweiterung der Software
vor [5]. Der Name FIR wurde neu geprägt, um der diffusen Natur der
erweiterten Methodik gerecht zu werden. Dies ist die Version von FIR, die
im
Kapitel 13 des Buches
Continuous System Modeling vorgestellt
wurde. FIR wird auch regelmässig im Unterricht eingesetzt
(
).
- Im Jahre 1993 wurde eine Schnittstelle zu ACSL erstellt, welche es zum
ersten Mal ermöglichte, gemischt quantitative und qualitative Modelle zu
simulieren [9]. Dies war möglich, da in FIR, im Gegensatz zu den meisten
anderen qualitativen Verfahren, die Zeitvariable eine quantitative, d.h.
realwertige Variable ist.
- Im Jahre 1994 zeigte
Àngela Nebot in ihrer
Dissertation auf, wie die FIR Methodologie auf biomedizinische
Systeme angewandt werden kann [
10,
13]. Im gleichen
Jahr entwickelte Àngela zusätzliche Algorithmen zu FIR, die es erlaubten,
Datensätze mit
fehlenden oder falschen Werten (Ausreissern) verarbeiten
zu können, wie sie häufig bei biomedizinischen Anwendungen auftreten [7].
- Im Jahre 1995 zeigte
Francisco (Paco) Mugica in seiner
Dissertation auf, wie die FIR Methodologie beim
systematischen Entwurf diffuser Regler zum Einsatz gebracht
werden kann [8]. Er wandte sein Verfahren auf die Ausregelung der
Fahrt eines Öltankers an.
- Im Jahre 1996 zeigte
Álvaro de Albornoz in seiner
Dissertation auf, wie die FIR Methodologie beim Entwurf von
Überwachungseinheiten grosser technischer Systeme eingesetzt
werden kann. Er bewies die Anwendbarkeit seiner Verfahren an Hand
der Entwicklung eines Überwachungssystems für Atomkraftwerke. Álvaro
wandte neben FIR auch die Methodik der
Rekonstruktionsanalyse
(RA) an. Die Arbeiten von Àngela, Paco und Álvaro sowie meine
eigenen Forschungen, die ich in Barcelona durchführte, wurden
grosszügig vom Consejo Interministerial de Ciencia y Tecnología
(CICYT) sowie der Generalitat de Catalunya in mehreren Projekten
unterstützt. Paco's und Álvaro's Aufenthalte in Barcelona wurden
ebenfalls vom mexikanischen Consejo Nacional de Ciencia y Tecnología
(CONACYT) unterstützt.
- Im Jahre 1998 zeigte
Mukund Moorthy in seiner
MS Thesis auf, wie FIR Modelle hierarchisch gegliedert auf das
Problem der
Analyse makroökonomischer Prozesse angewandt werden
können [14]. Dieses Projekt wurde vom U.S. Department of Defense
finanziert.
- Im Jahre 1999 ergänzte
Josefina (Fina) López die FIR Methodologie
um Module zur
Abschätzung des Vorhersagefehlers. Zu diesem Zweck führte
sie zwei verschiedene Vertrauenskriterien ein [11,15]. Sie zeigte in Ihrer
Dissertation, wie diese Kriterien zur Verbesserung der
Vorhersage univariante und multivariante Zeitreihen eingesetzt
werden können [12]. Die auf dieser Webseite zur Verfügung gestellte
Version von FIR (
)
reflektiert den Stand der Entwicklung nach Abschluss von Fina's Dissertation.
Diese Version der FIR Software ist in C geschrieben. Im ZIP File sind nur
die bereits übersetzten Softwaremodule (DLLs) enthalten, die direkt von
MATLAB aus aufgerufen werden können. Ebenfalls beigefügt wurden zwei
Anwendungsprogramme zur Abschätzung der Betäubungstiefe bei der Anästhesie
während chirurgischer Eingriffe [10].
- Im Jahre 2001 entwickelte
Josep Maria Mirats in seiner
Dissertation Methoden zur
Auswahl und Gruppierung von Variablen bei
der qualitativen Modellierung grosser Systeme [16,17]. Er verwendete
dazu sowohl die Methodiken des FIR wie auch der Rekonstruktionsanalyse.
- Im Jahre 2004 entwickelte
Ántoni (Toni) Escobet eine neue übergeordnete
Softwareschicht, welche die Anwendung von FIR erleichtern sollte. Er nannte
diese Software VisualFIR [18]. Während FIR befehls-gesteuert ist,
handelt es sich bei VisualFIR um menu-gesteuerte Software. Während bei der
Anwendung von FIR immer MATLAB Funktionen geschrieben werden müssen, erlaubt
VisualFIR, FIR Algorithmen aus Listen auszuwählen. Somit ist VisualFIR
etwas weniger allgemein als FIR, erlaubt aber viel einfacher und schneller,
verschiedene Algorithmen miteinander zu vergleichen. Interessenten mögen sich
bitte an
Àngela Nebot wenden. Die Entwicklung von VisualFIR stellt einen
Teil der noch unvollendeten Dissertation von Toni dar, welche im Jahre 2006
verteidigt werden soll. Àngela und ich betreuen diese Arbeit gemeinsam.
Momentan arbeitet Toni an einer weiteren Softwareschicht, die es erlauben wird,
FIR Module graphisch von SimuLink aus aufzurufen.
Wichtigste Publikationen
- Cellier, F.E., and D.W. Yandell (1987),
SAPS-II: A New Implementation of the Systems Approach Problem
Solver,
Intl. J. General Systems, 13(4), pp.307-322.
- Cellier, F.E. (1987),
Prisoner's Dilemma Revisited - A New Strategy Based on the General
System Problem Solving Framework,
Intl. J. General Systems, 13(4), pp.323-332.
- Cellier, F.E. (1987),
Qualitative Simulation of Technical Systems by Means of the General
System Problem Solving Framework,
Intl. J. General Systems, 13(4), pp.333-344.
- Vesanterä, P.J., and F.E. Cellier (1989),
Building Intelligence into an Autopilot Using Qualitative Simulation
to Support Global Decision Making,
Simulation, 52(3), pp.111-121.
- Li, D., and F.E. Cellier (1990),
Fuzzy Measures in Inductive Reasoning,
Proc. Winter Simulation Conference,
New Orleans, LA, pp.527-538.
- Cellier, F.E. (1991),
Continuous System Modeling,
Springer-Verlag, New York.
- Nebot A., and F.E. Cellier (1994),
Dealing With Incomplete Data Records in Qualitative Modeling and
Simulation of Biomedical Systems,
Proc. CISS'94, First Joint Conf. of Intl. Simulation Societies,
Zurich, Switzerland, pp.605-610.
- Cellier, F.E., and F. Mugica (1995),
Inductive Reasoning Supports the Design of Fuzzy Controllers,
J. Intelligent & Fuzzy Systems, 3(1), pp.71-85.
- Cellier, F.E., A. Nebot, F. Mugica and A. de Albornoz (1996),
Combined Qualitative/Quantitative Simulation Models of Continuous-Time
Processes Using Fuzzy Inductive Reasoning Techniques,
Intl. J. General Systems, 24(1-2), pp.95-116.
- Nebot, A., F.E. Cellier, and D.A. Linkens (1996),
Synthesis of an Anaesthetic Agent Administration System Using Fuzzy
Inductive Reasoning,
Artificial Intelligence in Medicine, 8(3), pp.147-166.
- Cellier, F.E., J. López, A. Nebot, and G. Cembrano (1996),
Means for Estimating the Forecasting Error in Fuzzy Inductive
Reasoning,
Proc. ESM'96, European Simulation MultiConference,
Budapest, Hungary, pp.654-660.
- López, J., G. Cembrano, and F.E. Cellier (1996),
Time Series Prediction Using Fuzzy Inductive Reasoning: A Case
Study,
Proc. ESM'96, European Simulation MultiConference,
Budapest, Hungary, pp.765-770.
- Nebot, A., F.E. Cellier, and M. Vallverdú (1998),
Mixed Quantitative/Qualitative Modeling and Simulation of the
Cardiovascular System,
Computer Methods and Programs in Biomedicine, 55(2),
pp.127-155.
- Moorthy. M., F.E. Cellier, and J.T. LaFrance (1998),
Predicting U.S. Food Demand in the 20th Century: A New Look at
System Dynamics,
Proc. SPIE Conference 3369: "Enabling Technology for Simulation
Science II", part of AeroSense'98, Orlando, Florida,
PP.343-354.
- López, J., and F.E. Cellier (1999),
Improving the Forecasting Capability of Fuzzy Inductive Reasoning
by Means of Dynamic Mask Allocation,
Proc. ESM'99, European Simulation MultiConference,
Warsaw, Poland, pp.355-362.
- Mirats, J.M., F.E. Cellier, R.M. Huber, and S.J. Qin (2002),
On the Selection of Variables for Qualitative Modelling of
Dynamical Systems,
Intl. J. General Systems, 31(5), pp.435-467.
- Mirats, J.M., F.E. Cellier, and R.M. Huber (2002),
Variable Selection Procedures and Efficient Suboptimal Mask Search
Algorithms in Fuzzy Inductive Reasoning,
Intl. J. General Systems, 31(5), pp.469-498.
- Escobet, A., A. Nebot, and F.E. Cellier (2004),
Visual-FIR: A New Platform for Modeling and Prediction of
Dynamical Systems,
Proc. SCSC’04, Summer Computer Simulation Conference,
San Jose, California, pp.229-234.
Sponsoren
- Consejo Interministerial de Ciencia y Tecnología (CICYT)
- Consejo Nacional de Ciencia y Tecnología (CONACYT)
- Generalitat de Catalunya
- U.S. Department of Defense (DoD)
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